Journal für Religionsphilosophie

Nr. 5 (2016/17): Ernste Spiele

Herausgeber:

Arbeitsgemeinschaft Religionsphilosophie Dresden e.V.

Ausstattung

Einband: Paperback; Seiten/Umfang: 158 S.; 21,0 x 14,8 cm.

ISBN

978-3-943897-24-1 (Nr. 5/2016/17) Printversion)
ISNN: 2194-2420 (Printversion)

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Editorial von Friedrich Hausen

Verehrte Leserin, verehrter Leser,

Spiele genießen in der massenmedialen Welt eine große öffentliche Aufmerksamkeit. Bei den Meisterschaften im Fußball, den olympischen Spielen oder den großen Tennisturnieren sind nicht nur die Sportler selbst affektiv intensiv involviert, sondern auch mitfiebernde Fans und andere Zuschauer. Dieses Involviertsein, ein Hingegebensein an eine Sache, wo es offensichtlich gar nicht so um die ernsten Dinge des Lebens geht, wird aber meist nicht als unangemessen belächelt, sondern gebilligt, ja gehört sogar zur affektiven Landschaft entsprechender Großereignisse als tragende Größe dazu. Dasselbe gilt für weite Bereiche populärer Kultur, den Besuch von Rockkonzerten oder von Kinofilmen, das Ansehen von Filmserien aber auch für die Teilnahme an Computerspielen. Angesichts des sozialen Magnetismus, der von Spielen im weitesten Sinne ausgehen kann, ihrer oft subjektiv empfundene Rolle der Vermittlung von sozial relevanten Realitäten an teilhabende Individuen, sowie der Bedeutung eines individuellen affektiven Involviertseins und Hingegebenseins stellt sich leicht die Frage, wie oberflächlich oder tief eine Verwandtschaft zwischen Phänomenen religiöser Anhängerschaft und säkularer „Fan-ship“ sein mag, worin relevante Unterschiede und Gemeinsamkeiten genau bestehen.
Die vorliegende Ausgabe des Journals für Religionsphilosophie mit dem Themenschwerpunkt "Ernste Spiele" widmet sich der Theorie des Spiels aus der Perspektive eines religionsphilosophischen Interesses. Spiele schaffen mit ihren Regeln eigene Handlungsräume und Horizonte, die den Charakter einer weltartigen Totalität gewinnen können und sehr spezielle Erlebnisqualitäten und Wahrnehmungszustände hervorrufen können. Spiele können bannen, äußerst lebendige existenzielle Zusammenhänge evozieren und besonders reine und intensive Stimmungen des Ernstes hervorrufen, wie sie im Alltag viel seltener entstehen. Solche Möglichkeiten spielerischer Formen werden auch innerhalb der Religion, etwa mittels theatraler, poetischer, musikalischer, bildnerischer oder architektonischer Elemente beansprucht. Existenzielle Tiefe und Transzendenzbezug religiöser Ausdrucksformen scheinen in hohem Maße an das ästhetische Tiefenpotential der jeweiligen Spielformen gebunden. Angesichts der lebensumgreifenden Verbindlichkeit sowie grundlegender normativer Ansprüche, die mit Religion verbunden sind, ergeben sich nun gerade in diesem Feld ausgeprägte Ambivalenzen im Umgang mit dem Spiel: Solches scheint integraler Bestandteil und durchaus spezifisch (etwa im Unterschied zu solchen Traditionen, bei denen weniger die Symbolisierung, sondern primär Meditation bzw. Übungen unmittelbarer Aufmerksamkeit die Praxis bestimmen). Zugleich stehen im Kern von Religionen spezifisch religiöse Wahrheitsansprüche und Ansprüche auf Angemessenheit, die eben nicht einen abgegrenzten spielhaften Horizont betreffen, sondern das ganze Leben oder überhaupt den normativen Horizont einer Sozialität. Es wäre nicht plausibel, den Ernst der Religion schlicht als „heiligen“ Ernst eines affektiv bannenden Spiels zu bewerten.
Wenn allerdings – wie in verschiedenen Theorien des Spiels betont wird – mit dem Spielen eine neue Welt entsteht, generiert wird und entsprechend Teilnehmende an „religiösen Spielen“ ihre Praxis als kommunikative Teilhabe an göttlicher Kreativität, der Fortführung einer göttlichen Schöpfung ansehen, wirft dies ein Licht auf die Tiefe, in der Spiele das individuelle und soziale Leben, ja überhaupt die soziale Realität bestimmen können, sowie auch auf die Härte von Konflikten, die zwischen Vertretern unterschiedlicher religiöser oder weltanschaulicher Spielformen entstehen können.
Viele der in der vorliegenden Ausgabe versammelten Beiträge thematisieren Aspekte religiöser Praxis unter Gesichtspunkten des Spiels. Andere Beiträge beschäftigen sich unter anderem mit konkreten Beispielen aus Liturgie oder Kunst oder betrachten auch die Philosophie oder selbst die Moral unter Gesichtspunkten des Spiels. In vielen der Texte sind grundlegende Ansätze zur Theorie des Spiels involviert, so dass neben den konkreten Themen auch ein Kranz von Möglichkeiten der systematischen Annäherung Spiel und Spielen zur Darstellung kommt. Dabei bildet der von Johann Huizinga bereits beschworene „heilige Ernst“ im Spiel ein gemeinsames Kernthema der meisten hier versammelten Aufsätze. Wie kommt es, dass etwas vordergründig so Unnützes, Unproduktives, Unwirkliches wie das Spiel uns dermaßen bannen und offenbar mehr als der Alltag existenzielle Gefühle wie den heiligen Ernst hervorrufen kann, der die Affekte im Spiel so sehr in die Nähe zu religiösen oder religionsintern erlebten Gefühlen stellt?
Jörg Splett eröffnet mit seinem brillanten Essay „Sich mitspielen lassen“ den Kreis von Texten zur Philosophie des Spiels. Ausgehend von Überlegungen zu den Einstellungen eines authentischen „Mitspielens“ liefert er ein theologisch imprägniertes Gesamtbild, wonach der ernste Charakter liturgischer Spiele im Sinne einer Teilhabe an Gottes schöpferischer Aktivität gedeutet werden kann.
In „Ritual und Spiel“ betont Christoph Wulf die realitätsgestaltenden Rollen der ludischen Elemente von Ritualen. Geleitet von der Auffassung, dass Rituale eine eigene situationsinterpretierende Kraft haben und angesichts ihrer Körperlichkeit eine größere gesellschaftliche Wirkung erlangen als Diskurse, skizziert er ein Netz von Beziehungen zwischen Ritual, Performativität, Imagination, Mimesis und mimetischem Wissen. Dabei kommt einem „mimetischen Begehren“ eine Schlüsselrolle für das Verständnis von Ritualen zu, die ein Fenster zur Hermeneutik religiöser Handlungsformen öffnet.
In „Religiöse und spielerische Motivation“ erwägt Friedrich Hausen, inwieweit spezifisch religiöses Handeln und Denken – auch außerhalb liturgischer Kontexte – spielerische Motivation involvieren. Dabei wird Erlebnisneugier bezüglich von Handlungen und Wirkungen ungeachtet ihres instrumentellen Wertes als zentral für eine typische spielerische Motivation genommen und Parallelen zwischen dem Spiel des Kindes und dem intrinsisch motivierten Lernen in einem religiösen Horizont betont.
Nicht nur die Religion, auch andere besonders ernste Praxen involvieren Spielaspekte. Martin Weicholds Aufsatz „Moral als Spiel“ entwickelt ein Bild, wonach – ausgehend von freiheitskritischen Argumenten aus den Neurowissenschaften – die noumenale Welt Kants als Welt eines ernsten Spiels gedeutet wird: Demnach entsteht mit der sozialen Praxis der Zuschreibung und Übernahme von Rollen im „Moralspiel“ erst die selbstverantwortliche Person und damit unsere Würde sowie der Horizont einer Welt moralischer Bedeutsamkeit.
Auch die Philosophie selbst kann als ernstes Spiel verstanden werden. Alexander Berg liefert in Ernste Spiele – eine kleine Erzählung von Wittgenstein bis Schiller und zurück eine Untersuchung zum Spiel im neueren Philosophieverständnis: Dabei geht er von einer Kritik von Russell an Hegel und Wittgenstein aus, deren Sprache nach Russell nicht die Merkmale einer „ernsten“ Philosophie, sondern eines unernsten Sprachspiels hatten, um die Philosophien der Kritisierten selbst als ernste Spiele zu interpretieren.
Dass viele unserer heutigen Einsichten und Überlegungen zur ernsten Rolle des Spiels nicht ganz neu sind, zeigt Friedo Ricken in "Der Mensch als Spielzeug Gottes". Er stellt einen platonischen Gedankengang vor, der sowohl das Spiel vor den Göttern als einzige wirklich ernste und würdige Tätigkeit begreift, als auch die Rolle der gepflegten Spiele für die Moral und Alltagspraxis herausstellt.
In der kulturhistorischen Darstellung "Zwischen Ernst und Spaß" untersucht Jörg Sonntag anhand reichen Beispielmaterials die Rollen von Spielen im klösterlichen Leben des Mittelalters, wobei er sowohl die strikte Ablehnung und Verbote bestimmter Spiele sowie die explizite religionspädagogische Rolle anderer Spiele thematisiert, etwa den Spielcharakter bestimmter Riten oder spielnahe Selbstverständnisse im religiösen Glauben.
In der vorliegenden Ausgabe finden Sie auch zwei Interviews zur Thematik ernster Spiele. Das erste Interview mit der lettischen Philosophin und Folkloristin Aīda Rancāne behandelt die Neukultivierungen archaischer Feste heidnischer Prägung im heutigen Lettland, wo insbesondere die Feste der Winter- und Sommersonnenwende in den letzten Jahren wachsenden Zulauf finden.
In einem zweiten Interview interessiert uns der Musiktheaterkomponist und Choreograph John Moran: Die Ästhetik von Morans Opern und musikalisch-gestischen Performances wurde oft als einzigartig gewürdigt. Dabei ist das Konzept seiner Form – eine Form rigoros mimetischen Spiels mit realistischen Klangillusionen – ebenso prägnant wie einfach. In unserem Interview fragen wir ihn zu seinen Wegen, das Mythische in einer profanen Umgebung zu evozieren.
Drei Essays in der Rubrik „Impulse“ erweitern die Überlegungen zur Rolle von Spielen in Religion und Gesellschaft.
Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz stellt im Blick auf Romano Guardinis breit und intensiv rezipiertes Werk „Vom Geist der Liturgie“ dessen auf Essentielles und Endgültiges zielende Einsichten zur Liturgie als „Leibhaftem Spiel“ vor.
Elena Plavskaya liefert in "Die orthodoxe Weltanschauung im Spiegel der Musik-Ästhetik Altgläubiger" einen Beitrag zur Rolle von musikalischen Spielen in der Orthodoxen Kirche und legt dar, inwiefern sich wichtige Aspekte der russisch-orthodoxen Weltanschauung anhand des symbolischen Gehalts der mittelalterlichen orthodoxen Gesangskunst zeigen.
Manuel Günther trägt in seinem Essay Erspieltes Geschichtswissen der wachsenden kulturellen Bedeutung von Computerspielen Rechnung. Er vertritt die Auffassung, dass Computerspiele heute – jenseits explizit pädagogischer Absichten – eine ähnliche Rolle in der Bildung spielen können, wie die Romane im 19. Jahrhundert.
Anschließend gibt es drei Rezensionen zu aktuellen Veröffentlichungen: Hanna Barbara Gerl-Falkovitz renzensiert Erich Hambergers Monographie "Kommunikation und Erkenntnis. Grundzüge einer fächerübergreifenden und transkulturellen Kontextualisierung" (2016). In Ergänzung zu dieser Rezension drucken wir zudem die Erwiderung des Autors, Erich Hamberger, auf diese Rezension. Von Stefan Hartmann stammt eine Rezension zu dem von Beate Beckmann-Zöller und René Kaufmann herausgegebenen Sammelband "Heimat und Fremde. Präsenz im Entzug" (Festschrift für Prof. Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, 2015). Michaela Starosciak bespricht die Promotionsschrift von Anna-Maria Martini, "Phänomenologie der Zweigeschlechtlichkeit" (2016).
In den abschließenden Seitenblicken folgen Ausflüge in die literarische Sprache. Maja Dschemuchadses Gedicht "Trinken wir!" sucht eine Balance aus spielerischer Leichtigkeit und existenzieller Bedeutsamkeit insbesondere auch im Blick auf Schattenseiten des Daseins. Friedrich Hausens Beitrag Befreiung zur Gegenwart – Gedanken zu Yves Bonnefoy würdigt den im Sommer 2016 verstorbenen Dichter und Essayisten als poetischen Apologeten des Gegenwärtigen, der die sprachlichen Spiele der Dichtung als Pfad in die Unmittelbarkeit verstand.
Die versammelten Beiträge des vorliegenden Journals für Religionsphilosophie bieten reiche Anstöße zu der Frage, welche Rolle Spielen und Spiele und insbesondere die in ihnen involvierten symbolischen und teils mimetischen Merkmale in Bezug auf Realität haben können: Sind sie Zugänge zur Wirklichkeit oder Formen der Mitschöpfung von Realitätsaspekten?
Wir wünschen Ihnen eine inspirierende und ertragreiche Lektüre.
Friedrich Hausen

 

Inhalt von Nr. 5 (2016):

Friedrich Hausen, Editorial

I. THEMENSCHWERPUNKT: ERNSTE SPIELE

  • Jörg Splett, Sich-Mitspielen-Lassen
  • Christoph Wulf, Ritual und Spiel. Zur Performativität von Mimesis und Imagination
  • Friedrich Hausen, Religiöse und spielerische Motivatio
  • Martin Weichold, Moral als Spiel
  • Alexander Berg, Ernste Spiele. Eine kleine Erzählung von Wittgenstein bis Schiller und zurück
  • Friedo Ricken, Der Mensch als Spielzeug Gottes
  • Jörg Sonntag, Zwischen Spaß und Ernst. Das Spiel als Heilsgarant in mittelalterlichen Klöstern

II. INTERVIEW

  • Zurück zu den Ursprüngen: Traditionelle Kultur und Religiosität im heutigen Lettland. Interview mit Aīda Rancāne – Biologin, Philosophin und Folkloristin
  • Rigorose Mimesis, mythische Profanität und Ewigkeit im Moment. Interview mit dem amerikanischen Musiktheaterkomponisten John Moran

III. IMPULSE

  • Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, Leibhaftes Spiel. Zur Anthropologie der Liturgie
  • Elena Plavskaya, Die orthodoxe Weltanschauung im Spiegel der Musik-Ästhetik Altgläubige
  • Manuel Günther, Erspieltes Geschichtswissen

IV. BUCHBESPRECHUNGEN

  • Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, Was hinter dem Modewort „Kommunikation“ ernsthaft steckt... Eine gewichtige Spurensuche. Rezension von Erich Hamberger, Kommunikation und Erkenntnis. Grundzüge einer fächerübergreifenden und transkulturellen Kontextualisierung (2016)
  • Erich Hamberger, Antwort des Autors an H.-B. Gerl-Falkovitz auf deren Rezension
  • Stefan Hartmann, Rezension von Heimat und Fremde. Präsenz im Entzug, hg. v. Beate Beckmann-Zöller, René Kaufmann (2015)
  • Michaela Starosciak, Rezension von Anna Maria Martini, Phänomenologie der Zweigeschlechtlichkeit (2016)

V. SEITENBLICKE

  • Maja Dshemuchadse, Trinken wir!
  • Friedrich Hausen, Poesie als Befreiung zur Gegenwart. Gedanken zu Yves Bonnefoy

Journal für Religionsphilosophie

 

Text & Dialog

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